Auf dem Buchmarkt fällt eine Häufung von Veröffentlichungen über den Komplex Künstleratelier ins Auge. Seit etwa fünfzehn Jahren steigert sich die Anzahl der Aufsätze, Themenhefte, Bildbände, filmischen Dokumentationen und Spielfilme über KünstlerInnen in ihrem räumlichen Arbeitskontext und transportiert den ?Mythos Atelier?. Simple Neugier auf den Ort, wo Kunst entsteht, reicht als Motivation des geballten öffentlichen wie spezifisch fachwissenschaftlichen Interesses nicht aus, um die Aktualität des Themas zu erklären. Vordergründig existiert eine Parallele der gesteigerten Aufmerksamkeit sowohl an der Geschichte von Produktionsräumen als auch an den spektakulären Kunstauktionen, wo von SammlerInnen hohe Summen für zeitgenössische Werke investiert werden - gleichzeitig spielt in Gesellschaft und Politik eine veränderte Wertschätzung des Künstlers und des Werks eine Rolle, unter anderem ausgelöst durch tiefgreifende mediale Innovationen, Verschiebungen der Kunstzentren nach 1989 und entsprechende Künstlerwanderungen, durch Umdefinition von urbaner zur durchökonomisierten Stadt, durch virulente Prekarisierung der Künstlerschaft auf dem Hintergrund von wirtschaftlicher Krise und Umverteilung sowie nicht zuletzt durch grundsätzliche Wandlungen im Künstlerselbstverständnis.
Unter diesen Voraussetzungen hat der Fotograf Hayo Heye 2010 eine Dokumentation von den Wirkungsstätten der KünstlerInnen in Hamburg begonnen. In bald drei Jahren sind bei zeitgenössischen KünstlerInnen vor Ort von Heye über hundert Aufnahmen gemacht worden.
Das beeindruckende Ergebnis des Projekts ist ein heterogenes und übergreifendes Spektrum der Produktionsräume für die bildende Kunst. Die unterschiedlichen Größen und Ausstattungen der Räume entsprechen nicht nur den finanziellen Verhältnissen ihrer Bewohner und der jeweiligen Verfügungsdauer über den Ort, sondern sind besonders den verschiedenen künstlerischen Ansätzen und deren Arbeitserfordernissen geschuldet - von den traditionellen Formen der bildnerischen Techniken Malerei und Zeichnung, Bildhauerei, Druckgrafik, über die Installations- zur Fotografie-, Video- und Konzeptkunst bis zur Übertragung von Kunst in den öffentlichen Raum. So zeigen die Fotos wohlüberlegte, auf Dauer funktional eingerichtete Werkstätten ebenso wie schnell auf- und abzubauende Provisorien aus Tapeziertisch, Klappstuhl und Billig-Regal: Standorttreue und Prekäres begegnen sich.
In der Spanne zwischen langfristig genutztem, klassischen Atelierraum und kurzer Einmietung manifestieren sich Überhänge aus der Reformzeit Lichtwarks, aus den Neuanfängen nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, aus den großen Anstrengungen der Hansestadt in den 1980er Jahren mit den geförderten Gründungen von Künstlerhäusern und aus der kräftezehrenden Behauptung von Flächen für die bildende Kunst nach 2001 angesichts zunehmender Verknappung in einer Stadt, die seitdem auf Gentrifizierung, Eventtourismus und Musikindustrie setzt.
Die Welt am Sonntag schreibt: ?Wie es in Hamburgs Künstlerateliers wirklich aussieht, davon konnte man sich noch nie ein so gutes Bild machen wie jetzt im Kunsthaus. Immer sind Hayo Heye nebenbei gute charakteristische Porträts gelungen, auch wenn die Räume, Keller, Wohnungen, Gartenlauben oder umfrisierten Garagen im Mittelpunkt stehen.?
Hrsg. Claus Mewes/Kunsthaus Hamburg
Texte von Claus Mewes und Waltraud Brodersen, Dirk Dobke und Goesta Diercks.
Ausstellung im Kunsthaus Hamburg, Klosterwall 15, 20095 Hamburg,22.März 2013- 22. April 2013.
Berlin 2013, 168 Seiten, über 100 Abb., 20,5 x 24,5 cm, gebunden, Deutsch
ISBN 978-3-86895-299-5