Legenden nach Ideen von Grazer Kindern
Der deutsch-türkische Künstler Nasan Tur setzt existierenden Mythen die gemeinsam mit Grazer Schulkindern erfundene Legende des ?Unbekannten Ritters? entgegen. Für seine Interventionen im öffentlichen Raum greift Tur auf das traditionelle Bronzedenkmal zurück, um es mit formalen und inhaltlichen Brüchen auszustatten: Der ?Unbekannte Ritter? ? der Künstler selbst ? zeigt sich als unzulänglich gerüstete und antiheroische Figur.
Nasan Tur fordert mit dem Siegerprojekt eines internationalen Wettbewerbs - Bollwerk gegen den (Süd)-Osten? - des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark das kollektive Gedächtnis heraus. Im Gegensatz zu der traditionellen historischen Methodologie, die auf ?reinen Fakten? besteht, sind sich zeitgenössische HistorikerInnen bewusst, dass ?soziale Ereignisse eher ,Konstruktionen? sind als isomorphe Darstellungen mit einem ,objektiven? Realitätsanteil? (Janet Abu-Lughold, On the Remaking of History: How to Reinvent the Past, 1989).
Der Tatsache, dass diese ?neue? Vergangenheit erst erfunden werden muss, trägt der deutsch-türkische Künstler insofern Rechnung, dass er einen Workshop mit Grazer Kindern in sein Projekt integriert, in dem neue Mythen, Legenden und Geschichten über den ?Unbekannten Ritter? erfunden werden. Der ?Unbekannte Ritter? ist ein Projekt, das sich auf den historischen Kontext von Graz (Landeszeughaus) bezieht, den Tur auf verschiedenen Ebenen ins Spiel bringt. Auf einer ideologischen Ebene stellt er männliche Tapferkeit, Militarismus und implizit Patriotismus in Frage, indem er zwei Figuren des fiktiven ?Unbekannten Ritters? (eine davon als ?Denkmal? in der Griesgasse, die andere als eine Art ?Fassadenskulptur? am Dach des Zeughauses) installiert.
?Der Unbekannte Ritter? liegt entspannt am Dach des Landeszeughauses, in der Herrengasse gibt ein Betonsockel Auskunft über seine Geschichte. In der Griesgasse findet sich eine Bronzestatue, die ihn in Lebensgröße zeigt, gänzlich unzureichend ?gerüstet? mit Helm, Schwert, Brustpanzer und Schild ? Abgüsse der Spielzeug-Rüstungen, die im Landeszeughaus verkauft werden. Auf dem Schloßberg, hoch über der Stadt, erinnert ein weiteres Denkmal an den ?Unbekannten Ritter?. Er scheint sich seiner Waffen entledigt zu haben, die hier in Bronze gegossen für die ?historische? Figur Zeugnis ablegen.
Für seine Interventionen im öffentlichen Raum greift Tur bewusst auf das traditionelle Bronzedenkmal zurück, um es mit formalen und inhaltlichen Brüchen auszustatten: Der ?Unbekannte Ritter? - der Künstler selbst - zeigt sich als unzulänglich gerüstete, verletzliche und antiheroische Figur, die sich gängigen Narrativen entzieht. Auf der visuellen Ebene spielt Tur mit den Ausstellungsobjekten im Landeszeughaus (die eine weltbekannte Touristenattraktion sind) und nützt in diesem Projekt auch eine übliche zeitgemäße Vertriebs-Schiene von Kunstinstitutionen, nämlich den Museum-Shop, in dem Postkarten sowie Bilderbücher, welche die von den Kindern neu formulierten Legenden illustrieren, zum Verkauf gelangen. Sie sollen die Kunde vom ?Unbekannten Ritter? in die Welt tragen und in der Folge weitere Legenden anregen.
Der ?Unbekannte Ritter? ist kein Projekt, welches das kollektive Gedächtnis der österreichischen Vergangenheit politisch in Frage stellt, auch spricht Nasan Tur Xenophobie und Rassismus nicht direkt an. Indem er jedoch die Mechanismen und das Funktionieren des kollektiven Gedächtnisses, insbesondere den Mythos des ?Feindes aus dem (Süd)-Osten?, in der gegenwärtigen Gesellschaft in Frage stellt, suggeriert er indirekt, dass die Politik der Erinnerung nicht ein Prozess ist, welcher der Vergangenheit angehört, sondern ein Thema, das die Gegenwart betrifft und das nicht nur in Graz und in Österreich, sondern auch anderswo. Es zeugt von großer gesellschaftlicher Verantwortung, dass das Landeszeughaus (Universalmuseum Joanneum), dessen Exponate eine Geschichte der Kriege und ?Abwehrkämpfe?, der ?Grenzfeste? und des ?Bollwerks gegen den (Süd)-Osten? erzählen, Kooperationspartner bei diesem Projekt ist. Wissenschaftlich unterstützt wurde das Projekt des Weiteren von CLIO ? Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit.
Ein Projekt von Nasan Tur. Text und Illustrationen von Lilli Messina.
Berlin 2011, 28 Seiten, zahlr. Abb., 26 x 21,5 cm, gebunden, Deutsch
ISBN: 978-3-86895-183-7