Furcht im Dunkeln ist eine der Urängste des Menschen. Der visuelle Sinn ist eingeschränkt und man empfindet ein Unbehagen aufgrund des Verlusts der gewohnten Wahrnehmung und Orientierung. Dunkelheit regt die Fantasie an. Max Sudhues nennt seine Ausstellung im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden zwar Home Before Dark ? sei zu Hause, bevor es dunkel wird ?, er präsentiert jedoch Werke, deren Wirkung sich erst in der Dunkelheit voll entfaltet. Mithilfe analoger und digitaler Lichtprojektoren sowie Alltagsgegenständen schöpft der Künstler neue Bildwelten: Videoprojektionen, in denen gewöhnliche Phänomene unversehens poetisch, surreal oder absurd erscheinen, und Schattenspiele, die kleine Gegenstände traumartig ins Riesenhafte steigern.
Sein technisches Repertoire ist dabei vielfältig. Diaprojektoren aus den 70er Jahren kommen genauso zum Einsatz wie moderne Digitalprojektoren. Alltagsobjekte werden im Verhältnis zur Lichtquelle so platziert, dass sie Schatten an die Wand werfen, welche teilweise wiederum von einem Video überlagert werden. Das hierbei verwendete Filmmaterial ist in den meisten Fällen vom Künstler, der immer eine Lumix in der Tasche hat und ein umfangreiches Archiv mit ?stock footage? und Dias besitzt, selbst produziert und überarbeitet worden. Als Motive interessieren ihn Ansichten aus Stadt und Land, in denen Gegenstände oder Flüssigkeiten in Bewegung sind. Die eigentümliche Faszination entsteht dadurch, dass Sudhues die Bilder spiegelt und nebeneinanderblendet, wobei er die Grenze zwischen zwei oder auch vier Bildern laufend verschiebt. Die an sich unscheinbare und einfache Bewegung der Vorlage verwandelt sich so in ein irritierendes Spiegelkabinett der Wirklichkeit.
Mit seinen Arbeiten, in denen Projektionen einander überlagern und verschiedene Komponenten wiederum ein neues Ganzes ergeben, knüpft Sudhues an die Tradition der Collage an. Zusätzlich fließen verbale Fragmente der Musik- und Popgeschichte wie auch der Literatur in seine Arbeiten ein, so etwa der Ausstellungstitel ?Home Before Dark?, der einer 2008 erschienenen Platte Neil Diamonds entlehnt ist. Max Ernst bemerkte 1962 in seinen biographischen Notizen: ?Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten [?] und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.?1 In den Projektionscollagen Sudhues? ist ein solches Zusammentreffen als künstlerische Strategie greifbar, wenn beispielsweise der zellartige Schatten eines handelsüblichen Orangennetzes sich in der Arbeit Im bleichen Sommer (2010)2 mit dem Video eines rätselhaften Baumkletterers vermischt und es verfremdet. Auf den Betrachter, der sich in der Raum einnehmenden Arbeit dem Spiel zwischen Licht und Schatten hingibt, springt ein Funke Poesie über, obwohl die Mittel dieses Spiels ? Oberlichtprojektor, Digitalprojektor und Alltagsobjekt ? auffällig präsentiert und genauso sichtbar sind wie die Projektionen selbst. Herstellung und Wahrnehmung, Konstruktion und Dekonstruktion, Illusion und Desillusion gehen als integrale Bestandteile aller Arbeiten Sudhues? eine spannungsreiche Wechselbeziehung ein.
In der Arbeit Drehende Städte / Turning Cities (Version Wiesbaden, 2010), die zuvor bereits in der Kölner Galerie Christian Lethert und im S.M.A.K. in Gent zu sehen war und die der Künstler ortsspezifisch realisiert, wird das Spannungsverhältnis zwischen technischer und ästhetischer Relevanz der Projektionsinstrumente reizvoll auf die Spitze getrieben: Ausrangierte und z. T. auf einer Drehbühne befestigte Diamagazine werden vor einem Diaprojektor installiert, sodass die von ihnen an die Wand geworfenen Schatten die Skyline einer surreal bewegten anmutenden Großstadt evozieren. Das unscheinbare Diamagazin ? hierin erblickt der Künstler eine medientheoretische Ironie ? avanciert zum Hauptdarsteller dieses Schattenspiels. Aus kunsthistorischer Perspektive erinnert Drehende Städte an die Klassische Moderne und ihr Interesse an der Großstadt, die zugleich Innbegriff der Verheißung aber auch des Verderbens ist. Im grafischen Videoloop Über das Dazwischen (2009) wird ein sich drehender Lüftungsventilator auf einer schwimmenden Plattform durch digitale Spiegelung und Verdoppelung zum Sinnbild menschlicher Beziehungen. Die mehrfach gespiegelte Aufnahme von wasserspeienden Abflussrohren auf einer Baustelle der Projektion I Love You But You Destroy Me (2009) verweist auf menschliche Unlandschaften und der Schatten eines kleinen Plastikgorillas auf einer Styroporkugel, mittels eines Ventilators bewegt, wird in der Arbeit Plan und Planet (2008) zum umgekehrten Atlas, denn er trägt die Welt nicht auf seinen Schultern, sondern ist ihr und ihrer unvorhersehbaren Bewegung ausgesetzt. Mit seinen multiplen Bedeutungsebenen und visuellen Überraschungen ist der collagierte Projektionsparcours von Max Sudhues als Approximately Infinte Universe, als annähernd unendliches Universum angelegt, wie Yoko Ono es 1973 besungen hat und wie eine seiner jüngsten Arbeiten betitelt ist.
Berlin 2010, Revolver VVV, 116 Seiten, zahlr. Abb., 17,3 x 27,5 cm, broschiert, Deutsch/Englisch
ISBN 978-3-86895-077-9