Meist sind es Ereignisse der jüngeren Geschichte und Politik, die den Ausgangspunkt für Rossella Biscottis Projekte bilden. Ihr Interesse gilt Themen und Erkenntnissen aus dem Bereich der Sozial- und Naturwissenschaften, wobei ihr Fokus auf Untersuchungen und Experimenten zu Erinnerung und Träumen liegt. Auslöser für ihre akribisch durchgeführten Recherchen sind oft Artikel aus Magazinen oder Zeitungsausschnitte, die ihre Aufmerksamkeit erregen und in denen sie Fragmente persönlicher Geschichten erkennt, die sie im Zuge ihrer Arbeiten zu Reflexionen über Identität, das Verhältnis zu Realität und die Darstellung von Erinnerung in Ausstellungsprojekte transformiert.
Ihre jüngste Arbeit I dreamt that you changed into a cat? gatto? ha ha ha wurde von Rossella Biscotti für die diesjährige Venedig Biennale entwickelt. Biscotti hat dafür einen mehrmonatigen Traum-Workshop (Laboratorio Onirico) mit einer Gruppe von 14 Insassinnen des venezianischen Frauengefängnisses von der Insel Giudecca abgehalten.
Ein weiterführendes Traumprojekt, das Rossella Biscotti ganz speziell für ihre Ausstellung in der Secession initiiert hat, findet sich ausschließlich in dieser Publikation wieder, die von der Künstlerin gleichsam als Erweiterung der Ausstellung behandelt wird und die ungewöhnliche Verbindung zweier autonomer Projekte betreibt. Als die Künstlerin zur Vorbereitung ihrer Ausstellung nach Wien kam, hat die besondere Organisationsform der Secession als Ausstellungshaus, das von einer KünstlerInnenvereinigung nach demokratischen Grundsätzen geleitet wird, ihr Interesse geweckt und sie spontan dazu bewogen, den für die Ausstellungsprogrammierung verantwortlichen Vorstand einzuladen, ebenfalls an einem von ihr initiierten Traumprojekt teilzunehmen. Für das Wiener Traumprojekt, an dem insgesamt acht Mitglieder des Vorstands teilnahmen, wurde ein nicht öffentliches Blog eingerichtet, in dem die TeilnehmerInnen ihre Träume anonym als Text oder visuell in Form von Zeichnungen oder Fotos posten und miteinander teilen konnten. Gleichzeitig wurde das gesammelte ?Traummaterial? auf diese Weise der Künstlerin zur Verfügung gestellt.
Beide Traumprojekte zusammen sollten aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Verhältnis und die Wechselwirkungen von Träumen und institutionellen Rahmenbedingungen erforschen. Eine totale Institution wie ein Gefängnis stellt hier nach Erving Goffman den Extremfall einer ?sozialen Institution? dar, während ein Ausstellungshaus für zeitgenössische bildende Kunst den andern Extrempunkt auf dieser Skala einnimmt. Gerade in diesem Spannungsverhältnis sah Biscotti den Reiz ihrer doppelten Recherche, von der sie erwartete, dass sich daraus für beide Projekte neue Lesarten und unerwartete Querverbindungen ergeben können.
Parallel zum Wiener Traumprojekt hat Biscotti die Baugeschichte die Möbelentwürfe aus den 1980er-Jahren von Adolf Krischanitz für das Sitzungszimmer der Secession sowie das damals in der gesamten Secession umgesetzte Farbkonzept des Künstlers Oskar Putz studiert. Das Farbsystem aus 43 Farben wurde für den Katalog rekonstruiert und nimmt dort eine zentrale Rolle ein: analog zu den Portraits der Frauen aus dem Gefängnis repräsentieren die Farben für Biscotti ? ähnlich wie Baupläne ? die Secession. Die über den ganzen Katalog verteilten Farbseiten bilden zudem eine visuelle Brücke zwischen den beiden Traumprojekten.
Events in recent history and politics usually form the starting point for Rossella Biscotti?s projects. She is also interested in issues and insights in the social and natural sciences, particularly in studies and experiments involving memory and dreams. Whether doing research or conducting conversations and interviews with people involved in events or contemporary eyewitnesses, her method of working is always based on dialogue and guided by her quest for formally compelling solutions for her exhibitions. Her preferred media are ?poor? materials such as concrete, iron, lead, chipboard, or more recently compost, which Biscotti relates to her subject matters and uses to draw together the various strands of narratives.
Rossella Biscotti?s latest work, I dreamt that you changed into a cat? gatto? ha ha ha, was originally created for this year?s Venice Biennale. For this project, Biscotti held a dream workshop (Laboratorio Onirico) lasting several months with a group of fourteen inmates of the Venetian women?s prison on Giudecca Island.
Another dreamproject that Rossella Biscotti initiated specially for the exhibition at the Secession appears only in the publication, which she envisaged as a kind of extension to the exhibition that would create an unusual connection between two autonomous projects.
When the artist arrived in Vienna to prepare her exhibition, the special organizational form of the Secession as an exhibition venue run by an association of artists based on democratic principles awakened her interest and moved her to spontaneously invite the board responsible for the exhibition program to take part in a dream project as well. For the Vienna dream project, in which eight members of the board participated, a non-public blog was set up in which participants could post their dreams anonymously either as texts or visually in the form of drawings or photos and thus share them with one another. In this way, the collection of ?dream material? also became available to the artist. Taken together, the two dream projects were intended to examine from various perspectives the relationship between dreams and the institutional setting and the impact they have on one another. According to Erving Goffman, a total institution such as a penitentiary represents an extreme example of a ?social institution,? while an exhibition venue for contemporary art is situated at the other extreme of this scale. Motivated by this tension between the two extremes, Biscotti anticipated that her dual research might generate new readings and unexpected associations.
Parallel to this, Biscotti studied Secession´s construction history. She was particularly interested in Adolf Krischanitz?s 1980s furniture designs for the Secession conference room and artist Oskar Putz?s color scheme dating from the same period. The forty-three colours system was reconstructed for the catalogue, where it serves as a central element: just as the portraits of the female prisoners represent the women themselves or, more precisely, their absence, so the colors, to Biscotti?s mind, represent the Secession itself roughly as architectural plans would. The pages of color intercalated throughout the catalogue form a visual bridge between the two dream projects. (OLD ISBN 978-3-86895-306-0)
secession (Ed.)
Berlin 2013, 144 Seiten, ill., 16,5 x 22,2 cm, Softcover, German/EnglishISBN 978-3-86895-306-0