Katalog zur Ausstellung "Wo über dem Grün ein rotes Netz liegt" im Kunstverein
Ulla von Brandenburg arbeitet in sehr unterschiedlichen Medien ? Zeichnungen und Scherenschnitte stehen neben Wandmalereien, Stoffarbeiten neben 16mm Filmen. Ihre Werke beziehen sich häufig auf ältere Darstellungskonventionen, in denen Expressivität und Theatralität Ausdruck fanden: Tarotkarten, frühe Fotografien, aber auch so genannte Tableaux Vivants und Jahrmarktsensationen. Posen und Gesten dieser Darstellungen oder aber eine theatrale Qualität, die das Verhältnis von Schein und Sein auslotet, adaptiert von Brandenburg in abstrahierter Weise. Dabei geht es weniger um die Übernahme konkreter Inhalte als um die formale Inszenierung, die eine Vielzahl kultureller wie repräsentatorischer Interpretationsmuster freilegt. Sie spürt gesellschaftlichen Verhaltensmustern, Regeln und Ritualen nach, ohne diese konkret abzubilden. Der Hang zum Ornamentalen, der viele ihrer Entwürfe charakterisiert, zeichnet vielmehr repräsentative Ordnungsmuster nach, die sich auf Individuum und Gesellschaft übertragen lassen. Von Brandenburgs oft historisch inspirierte Motive fungieren durch die Übertragung in einen aktuellen Zeitbezug überdies wie ein zwischen Darstellung und Rezeption geschalteter Filter. Gerade die Uneindeutigkeit der Szenarien machen den Betrachter deshalb zum Komplizen der vermeintlichen Dechiffrierung.
In ihrer Einzelausstellung ?Wo über dem Grün ein rotes Netz liegt? ? der Titel ist ein Zitat aus Anton Tschechows Drama ?Onkel Wanja? ? zeigt von Brandenburg das breite Spektrum ihrer Werke: Neben zahlreichen Zeichnungen und einem Wandbild ist der 16-mm Film ?8? zu sehen. In einer langsamen Kamerafahrt erschließt der Schwarz-Weiß-Film die Zimmerfluchten eines barocken Schlosses. Zunächst richtet sich die Kamera auf ein Ölgemälde, das eine Außenansicht des Schlosses zeigt. Dann durchquert sie in langsamer Fahrt die einzelnen Räume, allerdings nicht in linearer Abfolge, sondern in Form einer Möbiusschleife. In den verschiedenen Räumen trifft sie auf junge Menschen in eingefrorenen, symbolträchtigen Posen, die auf Werke der bildenden Kunst sowie frühere Arbeiten der Künstlerin anspielen. Ulla von Brandenburg präsentiert diese 16mm-Projektion innerhalb einer labyrinthartigen Struktur aus farbigen Stoffbahnen, die mit dem Grundriss des Schlosses im Film korrespondiert. Angelehnt an den so genannten Lüscher-Test, einen 1948 entwickelten Psychologietest, bei dem die Auswahl von Farben Rückschluss auf die Persönlichkeit des Probanden geben soll, entstehen durch die Kombination der verschiedenfarbigen Stoffbahnen Farbräume, die der Betrachter durchschreitet und die mit der Distanziertheit der filmischen Bilder kontrastieren. In dem Film und seiner Präsentation wird auf diese Weise ein Spiel aus Gegensätzen und Bezügen, Stillstand und Bewegung in Gang gesetzt, an dem der Betrachter unmittelbar Anteil hat.
Im angrenzenden Raum setzt sich diese suggestive Kombination unterschiedlicher Bezugssysteme fort. Die aus alten Anzügen erstellte Arbeit ?Quilt 1? steht neben Zeichnungen, die Personen in unterschiedlichen emotionalen Zuständen zeigen, einem Scherenschnitt und einem farbigen Band. Auch wenn es keinen unmittelbaren Bezug zu dem Film gibt, ergänzen ihn diese Werke auf assoziative Weise. Das Wandbild ?Wald? im Foyer könnte beispielsweise die Landschaft vor dem Schloss darstellen. Es ist wie ein Rorschachtest angelegt: die Bäume spiegeln sich in einem See, gleichzeitig ergibt sich die Impression eines Waldes aus dem Rapport der gespiegelten Teilstücke. Auf der Wand gegenüber steht ebenfalls spiegelverkehrt in englischer Sprache ein Zitat aus dem Gedicht ?Das Segel? von Michail Lermontov: ?Doch trotzig sucht es Sturm und Fluten, als ob in Stürmen Ruhe wär.? Diese Verknüpfung ist charakteristisch für von Brandenburgs Verfahren, Beziehungen herzustellen, die Bedeutung produzieren, aber keine Evidenz einfordern. In der für die Ausstellung produzierten Zeitschrift ?Nr. 4? findet dieses Verfahren ebenfalls prägnanten Ausdruck. Das Faksimile von Seiten aus einem dänischen Album der Jahrhundertwende zeigt Zusammenstellungen von Bildern scheinbar gleicher Ordnung, die ein ganz eigenes narratives Potenzial entfalten. Porträts, reproduzierte Stiche von Bäumen, Ornamente und Druckvorlagen stehen zu Serien geordnet gleichberechtigt nebeneinander, und doch bleibt die Funktion des Albums mysteriös.Frankfurt/Main 2008, Revolver, 207 Seiten zahlr. Abb., 25,5 x 20,5 cm, broschiert
ISBN 978-3-86588-439-8