Im Jahr 2010 zeichnete Cao Fei eine Landkarte, die eine fiktionale Landschaft mit drei Flüssen zeigt: den Perlfluss und den Nu-Fluss in China sowie den Po in Italien. Guangzhou, die Heimatstadt der Künstlerin, befindet sich im Perlflussdelta; den Nu-Fluss bereiste sie für ihr Nujiang River Project mit kantonesischen Rappern, und der Po fließt durch Turin, wo sich die Künstlerin 2010 im Rahmen eines Projekts aufhielt. Diese Flüsse finden ihren Nachhall in der kantonesischen Kultur, im öffentlichen Raum, in internationalen Jugendkulturen und in Cao Feis Begegnungen mit der internationalen Kunstwelt, die allesamt auch wichtige Facetten im Prisma ihrer künstlerischen Arbeiten darstellen. Ob real (wie das Perlflussdelta) oder ideell (wie die Ströme des Begehrens und Bewusstseins) – Flüsse und Bäche modifizieren, generieren und formen Cao Feis künstlerische Praxis, die im Gegenzug die Eigenschaften ebenjener Wasserläufe offenbart.
„Den Fluss überqueren, indem man mit den Füßen nach den Steinen tastet“ (摸着石头过河) lautete das pragmatische Motto des ehemaligen chinesischen Spitzenpolitikers Chen Yun. Der Fluss als Metapher für ständigen Wandel und unbekannte Herausforderungen: Heraklit zufolge kann man nicht zweimal in denselben Fluss steigen; alles fließt, nichts steht still. Der Fluss ist ein äußerst vielseitiges und in Politik und Philosophie von jeher häufig verwendetes Bild, das mit Vorstellungen des Werdens wie Zeit und Bewusstsein einhergeht. Flüsse bergen nicht nur das Unbekannte in ihren Tiefen, sondern können selbst nicht wissen, wohin sie strömen. Darin ähneln sie triebhaften Energien: Ihre Struktur ist nicht vorgegeben. Ein Fluss ist keine homogene Masse in Bewegung, er verändert sich und wird verändert, wie seine Ufer. In einer Art Latour’schen Übertragung entfaltet er sich selbst in der Begegnung mit anderen Aktanten. So kommt es zu einer gegenseitigen Verwandlung von Objekten wie Fischen, Pflanzen, Erde und eben dem Fluss, der nicht nur seine eigene einzigartige Heterogenität offenbart, sondern auch die der Dinge, mit denen er in Berührung kommt. Über die Fluss-Metapher kann man in Cao Feis geistige Landkarte eintauchen und ihre ästhetische Topologie entdecken.
Durchstöbert man das persönliche Archiv der Künstlerin, stößt man auf eine eindrucksvolle Menge unveröffentlichter Bilder und Texte aus verschiedenen Phasen ihrer künstlerischen Laufbahn: Landkarten, Zeitpläne, Erzählungen, Skizzen, Storyboards ... Sie erzählen von den Unterströmungen in Cao Feis künstlerischer Praxis und verweisen auf wiederkehrende Themen wie Schwangerschaft und Fortpflanzung, die in Bildern von Eiern oder vervielfachten Gliedmaßen versinnbildlicht werden. Die vom Absurden durchsetzte Banalität des Lebens gewöhnlicher Menschen, die in den Grenzzonen zwischen Land und Stadt, privatem und öffentlichem Raum leben, sind ein weiteres beständiges Thema, angefangen von Cao Feis Hip-Hop-Serie bis zu ihrem jüngsten Film Haze and Fog. Die Bildwelt des japanischen Regisseurs Terayama Shuji hat ebenfalls eine subtile, ständige Präsenz in ihren Arbeiten.
Diese Publikation knüpft an die metaphorische Bedeutung von Flüssen an – ihre Vielheit und Fluidität –, um Cao Feis wellenhafte Verbildlichung der kulturellen Unterströmungen ihrer künstlerischen Praxis offenzulegen. Sie vereint unveröffentlichte Erzählungen, Skizzen, Skripten und andere Bild- und Textmaterialien der Künstlerin.
In 2010, Cao Fei drew a map portraying a fictional landscape composed of three rivers: the Pearl River and Nu River in China and the River Po in Italy. The artist’s hometown, Guangzhou, is located in the Pearl River Delta, while she travelled along the Nu River with Cantonese rappers in her Nujiang River Project. The River Po, in turn, passes through Turin, where Cao Fei was working on a project in 2010. These rivers resonate with Cantonese culture, public space, international youth culture, and Cao Fei’s own exposure to the international art world, all of which are important facets in the prism of the artist’s works. Whether real like the Pearl River Delta, or conceptual like the flows of desire or consciousness, rivers and streams modify, generate, and sculpt Cao Fei’s practice while having their qualities revealed in the artist’s works.
“Crossing the water by feeling the rocks”(摸着石头过河): this pragmatist slogan advocated by former Chinese leader Chen Yun uses the river as a metaphor for flux and unknown challenges. Heraclitus said that no one steps into the same river twice; everything flows and nothing stays still. The river is a highly versatile image often used in the history of philosophy and politics, where it has been linked to concepts of becoming, such as time and consciousness. Rivers not only suggest the unknown, they do not themselves know where they are going and, like libidinal intensities, are not pre-structured. A river is not a moving whole of homogeneous substance but, like its two banks or sides, itself changes while being changed, unfolding via a Latourian translation between itself and other actants that it encounters. A mutual transformation takes place between objects including fish, plants, soil, and the river itself, which reveals its own heterogeneous, singular qualities and those of whatever comes into contact with them. The river metaphor provides a perspective to delve into Cao Fei’s mind map and discover her aesthetic topology.
Going through the artist’s personal archive brings to light an impressive amount of unpublished textual and visual materials from different phases of the artist’s career: maps, timetables, short stories, sketches, storyboards . . .They narrate the undercurrents of Cao Fei’s artistic practice and point to recurring themes such as pregnancy and reproduction, referenced in images of eggs or multiplied limbs. The banal lives punctuated by absurdity that people lead in the liminal zones between urban and rural developments, public and private spaces are addressed in works ranging from Cao Fei’s Hip Hop series to her more recent film Haze and Fog. Visual references to the works of Japanese director Terayama Shuji also subtly haunt Cao Fei’s art.
The present publication draws on the metaphoric meaning of rivers – their multiplicity and fluidity – in an attempt to present the artist’s undulating visualization of the cultural undercurrents in her artistic practice. It brings together unpublished short stories, sketches, scripts, and other textual/ visual materials by Cao Fei.