Cinthia Marcelle hat vielfach Situationen und performative Aktionen in öffentlichen Räumen inszeniert, um mit diesen Interventionen Alltagshandlungen in poetische Ereignisse zu transformieren. Video und Fotografie dienen dabei als künstlerische Mittel der Dokumentation. Die Künstlerin hat die Ruine als Allegorie für Geschichte jenseits von einem Schönheitsbegriff immer wieder thematisiert. Dabei nimmt sie Bezug zu Walter Benjamins Auffassung von Geschichte als Vorgang eines unaufhaltsamen Verfalls. Ein Material, das Marcelle wiederholt verwendet hat, ist Staub. Die losen Partikel werden in klar abgegrenzte Räume gesprüht und markieren, sobald sie sich gesetzt haben, einen neuen Raum. Die abgelagerten Schichten von Staub und Schmutz verkörpern zugleich die Materialisierung von Zeit.
Mit ihrer Installation Dust Never Sleeps (2014) transformierte Cinthia Marcelle das Grafische Kabinett der Secession in einen verwaist anmutenden Raum, in dem alles von schwarzem Ruß bedeckt ist: Boden, Wände, Decke, Fenster, Türen, Lampen. Hellere Konturen heben sich ab und die unterschiedlich dichte Akkumulation von Material erzeugt, ähnlich einem Fotonegativ, eine Art räumliche Zeichnung. Nur ein schmaler Bereich ist ausgespart und für BesucherInnen betretbar. Die räumliche Enge des sauberen Streifens und die offensichtliche labile Beschaffenheit der aus losem Pulver bestehenden Installation erzeugen eine spürbare Spannung, während die scharfe Trennung zwischen den beiden Bereichen einen Außen- im Innenraum schafft.
In der zur Werkgruppe Temporário (2011?) zählenden Arbeit Temporário (Edelweiß-Zünder) (2014) wurden außerdem rund 4.000 Zündholzschachteln in die Vitrine im Stiegenhaus geschlichtet und füllen diese komplett aus. Ihre Präsenz wirkt angesichts der rußgeschwärzten Installation im Kabinett wie die kondensierte Energie einer latenten Gefährdung. Die abwechselnd dunklen und hellen Flächen der Schachteln wiederum bilden unterschiedlich breite Linien eines geometrischen Musters, das die Handschrift industrieller Produktion trägt. Deren Strenge wird durch Gesten menschlichen Handelns konterkariert, zu erkennen in den subtilen Spuren auf den dunklen Reibflächen und kleinen Unregelmäßigkeiten. Die eigentliche Funktion der Vitrine erscheint ? wie in allen Arbeiten dieser Serie ? außer Kraft gesetzt, wird doch der Blick in den dahinterliegenden Raum verwehrt, der Schaukasten selbst zu einem Bildträger umfunktioniert.
Im Stiegenhaus zum Grafischen Kabinett wiederum war eine Fotografie zu sehen, die Teil des Diptychons The Tempest (2014) ist. Eine surreal anmutende Szene zeigt eine dunkelhäutige Frau vor einer Felswand in einem sonst leeren weißen Raum. Sie hält einen Putzfetzen in der Hand und trägt weiße Gummistiefel, ein Fuß steckt in einem Kübel mit dunkler Flüssigkeit und ihr Hosenbein ist bis unters Knie sichtlich nass. Auf der Einladungskarte zur Ausstellung ist der zweite Teil des Diptychons, der ein Versagen suggeriert (ja, in dieser invertierten Reihenfolge sogar vorwegnimmt), abgebildet: der Kübel ist umgekippt, der Felsen weist einen nassen, dunklen Fleck auf, die Verursacherin dieses Missgeschickes ist jedoch abwesend. Wie in einer Reihe fotografischer Arbeiten bringt Marcelle auch hier das Thema eines vermeintlichen Versagens oder Unglücks ins Spiel.
Für ihr Künstlerbuch hat Cinthia Marcelle eine ebenfalls The Tempest titulierte Serie von Frottagen ? Abdrücken von gefalteten Blättern ? angefertigt. Interessant ist hier die Wahl eines analogen Reproduktionsverfahrens. Während der Bildträger selbst zum Motiv wird, entfalten die Variationen der Faltung eine poetische Narration, die ihre Spannung aus dem zugleich An- und Abwesenden des Darunterliegenden gewinnt.
Die Dualität in der Komposition von Giorgiones Tempesta (um 1508) bildet schließlich einen Bezugspunkt sowohl für die in der Ausstellung Dust Never Sleeps versammelten Arbeiten als auch für die im Künstlerbuch abgebildete Frottageserie. Die Figuren im Bild des Renaissancemalers wirken eigentümlich isoliert vom sonstigen Bildgeschehen. Die stillende Frau im Vordergrund, die aus dem Bild hinausblickt und damit die BetrachterInnen direkt anspricht, unterstreicht und überwindet zugleich die Trennung zwischen dem Bildraum und jener außerhalb dessen liegenden Realität, der ihrer Wahrnehmung. Sie scheint zugleich im und außerhalb des Bildes zu sein und vermittelt, dass BetrachterInnen (wie die BesucherInnen dieser Ausstellung) vermögens ihrer Imagination eine Brücke zur künstlerischen Arbeit schlagen können. Damit schließt sich der Kreis von Außen und Innen und eine weitere (räumliche) Dimension wird eröffnet.
Cinthia Marcelle has often staged situations and performative acts in public spaces, interventions designed to transform quotidian actions into poetic events. Video and photography are her chosen artistic media of documentation. On several occasions, the artist has explored the ruin as an allegory of history divorced from any conception of beauty, drawing on Walter Benjamin's understanding of history as a process of inexorable decline. One material that recurs throughout Marcelle's oeuvre is dust. She sprays the loose particles into clearly delimited spaces, where they settle to demarcate a new space. At the same time, the deposited layers of dust and grime embody the materialization of time.For her installation Dust Never Sleeps (2014), Cinthia Marcelle transforms the Secession's Grafisches Kabinett into a seemingly abandoned space in which everything?the floor, walls, and ceiling, the windows, doors, and light fixtures?is thoroughly covered in black soot. Brighter contours stand out; variations in the density of the accumulated material generate a sort of drawing in space, not unlike a photographic negative. Only a narrow corridor has been left blank and is open to visitors. The sense of confinement in the neatly clean walkway and the manifestly unstable condition of the installation, which consists of loose powder, produce a palpable tension; the sharp line separating the two areas, meanwhile, establishes an exterior within the interior.
For Temporário (Edelweiß-Zünder) (2014), the artist has filled the display case in the staircase with around 4,000 neatly stacked matchboxes. Given the soot-blackened installation in the Grafisches Kabinett, their presence feels densely charged with a latent menace. The alternating dark and light parts of the boxes, meanwhile, form the variously wider and narrower bands of a geometric pattern that bears the mark of industrial manufacturing, its rigid uniformity disrupted here and there by gestures of human action, recognizable in minor irregularities and faint traces of use on the dark striking surfaces. Like all pieces in the series, the work seems to suspend or call in question the display case's designated function: we cannot actually see into the space behind the glass pane, which has been repurposed as a flat visual medium.
A photograph on display in the staircase leading up to the Grafisches Kabinett is part of the diptych The Tempest (2014). It is a vaguely surreal scene: a dark-skinned woman stands in front of a rock wall in an otherwise empty white room. She holds a cleaning rag in one hand and wears white rubber boots; one foot is stuck in a bucket filled with a dark liquid, and her pant leg is visibly wet up to below the knee. The second part of the diptych, which appears on the invitation card for the exhibition, suggests a blunder (and, in an inversion of the sequence of events, anticipates it): the bucket has been knocked over and a dark wet spot marks the rock wall, while the perpetrator of this mishap is nowhere to be seen. As in a number of her photographs, Marcelle brings the theme of ostensible failure or misfortune into play.For her artist's book, Cinthia Marcelle created a series of frottages, imprints of folded sheets, which is also titled The Tempest. The choice of an analogue process of reproduction is interesting. As the support medium becomes a motif in its own right, the variations of the folding pattern relate a poetic narrative whose muted force derives from the simultaneous presence and absence of what lies underneath.
Ultimately, the dualism in the composition of Giorgione's Tempesta (ca. 1508) is a shared point of reference both in the works assembled in the exhibition Dust Never Sleeps and in the frottage series in the artist's book. The Renaissance painter's figures seem strangely isolated from the painted action around them. The gaze of the woman nursing her infant in the foreground crosses the threshold of the picture to address the beholder directly, emphasizing and simultaneously overcoming the division between the pictorial space and the outside reality of its perception. She seems to be within the painting and at once outside it, intimating that the viewers (like the visitors to Marcelle's exhibition) can bridge the gap between themselves and the work of art by power of their imagination. The passage between exterior and interior comes full circle, opening up another (spatial) dimension.
Texte: Herwig Kempinger/Jeanette Pacher, Emílio Maciel
secession (Hg./ed.)