Manon de Boer arbeitet vorwiegend mit Film. Sie setzt sich mit dem Medium kritisch auseinander, etwa wenn sie das Verhältnis von Bild und Ton auslotet und dabei die Macht der Bilder und ihren Wahrheitsanspruch hinterfragt. Die persönliche Erzählung dient de Boer ebenso wie die musikalische Interpretation als Gegenstand und Methode ihrer als langsam fließende Bilderfolgen komponiertenfilmischen Porträts. Die Protagonisten ihrer Filme sind oft SchauspielerInnen, MusikerInnen, TänzerInnen und Intellektuelle. Die Figuren selbst nehmen erst im Lauf ihrer Erinnerungen Form an, kommen wie Fotoabzüge in der Dunkelkammer nur allmählich zum Vorschein, und auch dann bleibt mindestens so viel verborgen, wie preisgegeben wird
In einer Reihe von Arbeiten erkundet sie das Wesen der Erinnerung: Sie filmt Menschen, die von früheren Erlebnissen und Erfahrungen berichten. Dazu zeichnet de Boer oft mehrere Sitzungen über einen längeren Zeitraum hinweg auf. Dabei gibt es immer wieder Abweichungen; unterschiedlich erinnerte Versionen einer Geschichte. Diese Flexibilität des Erinnerungsvermögens man könnte es auch als Brüchigkeit oder Inkonsistenz in der Narration bezeichnen ist für die Künstlerin nicht nur ein Mittel, das die wandelbare Beziehung von Zeit und Sprache verdeutlicht. Sie rückt auch die jeweils situations-bedingte Wahrnehmung und deren Veränderlichkeit in den Mittelpunkt. Das Voice-over des Erzählers/ der Erzählerin erzeugt zugleich eine eigene Ebene, die sich von der körperlichen Präsenz des oder der Dargestellten emanzipiert hat.
Das wachsende Interesse der Künstlerin an den Voraussetzungen von Kreativität spiegelt sich in ihren letzten Projekten wider, die sich auf die eine oder andere Weise mit Wiederholung, Rhythmus, Träumerei und der Wahrnehmung von (endloser) Zeit und (raumlosem) Raum auseinandersetzen und mit der Vorstellung, sich den Kopf radikal freizumachen. Ich betrachte diese zwecklosen Momente, in denen man seinen Gedanken freien Lauf lassen, die Zeit vergessen und den Kopf frei machen kann, als wesentlichen Teil des kreativen Prozesses.
Eine theoretische Untermauerung ihrer eigenen Beobachtungen und Erfahrung findet sie u.a. in den Schriften der britischen Psychoanalytikerin Marion Milner (19001998), die sich eingehend mit Kreativität befasste, ebenso wie in Texten der von ihr sehr¬ geschätzten kanadisch-US-amerikanischen Künstlerin Agnes Martin, die derselben Generation wie Milner ange¬hörte. Vor allem Milners Buch An Experiment in Leisure (1937) und Martins Text The Untroubled Mind (1972) bieten nicht nur interessante und anregende Überlegungen, an die de Boer anknüpft; sie sind auch titelgebend für zwei Filme.
Im aus Anlass einer Ausstellung in der Secession von ihr entwickelten Künstlerbuch Trails and Traces finden sich neben zahlreicher Filmstills u.a. Auszüge aus den Gesprächen über Marion Milner und ihre Theorien sowie weitere, von der Künstlerin ausgewählte relevante Texte zu diesem Themenkomplex.
Manon de Boer primarily works with film, and her art often subjects the medium itself to critical scrutiny; for example, she insistently probes the interplay between image and sound and questions the power of pictures as well as their claim to truth. Personal narrative and musical interpretation figure as both subjects and methodological registers of de Boers filmic portraits, which she composes as slow-paced fluid sequences of images. Most of the protagonists of her films are actors and actresses, musicians, dancers, and intellectuals. The characters gradually assume definite shape as their recollections unfold, emerging into view like photographic prints in the darkroom, and even the fully formed picture conceals at least as much as it reveals.
A series of works by de Boer investigates the nature of recollection: she films people as they speak about past incidents and experiences, often recording several sessions over an extended period of time. Occasional discrepancies and changing details along the edges of their accounts suggest the pliability of memory. In de Boers work, what one might also describe as the fragility or inconsistency of narrative not only draws attention to the mutable relationship between time and language; it also highlights the ways in which perception is dependent on the situational context and subject to subtle alterations. The use of voiceover narration adds another layer that transcends the sitters physical presence.
Reflecting the artists growing interest in the preconditions for creativity, her recent projects have dealt in one way or another with repetition, rhythm, reverie, the perception of (endless) time, (spaceless) spaceand the idea of emptying ones mind. I regard these moments of aimlessness when you can let your mind wander, forget time, and clearyour head as an essential part of the creative process.
De Boer finds theoretical support for her own observations and experiences in readings such as the work of the Britishpsychoanalyst Marion Milner (19001998), who studiedcreativity extensively, and the writings of the Canadian- American painter and Milners contemporary Agnes Martin, whose work she regards highly. Milners book An Experimentin Leisure (1937) and Martins text The Untroubled Mind (1972), in particular, not only contain interesting and stimu¬lating reflections that inspired de Boer; they have also given two of the films their titles.
The artists book Trails and Traces Manon de Boer has created on occasion of an exhibition in the Viennese Secession includes several film stills as well as excerpts from the conversations about Marion Milner and her theories and other relevant writings on related issues.
Texts: Manon de Boer sowie Giorgio Agamben, Roland Barthes, Lygia Clark, Sara De Roo, Latifa Echakhch, Sirah Foighel Brutmann, Yves Gevaert, Latifa Laâbissi, Agnes Martin, Marion Milner, Michael Schmid, Christophe Wavelet, Julia Wielgus, D. W. Winnicott